Newrozcamp - Fotos aus Sengal








Als der IS die Eziden (ezidische Kurden) in Sengal angriff und sie zu Zehntausenden in die Berge flohen, waren es die Volks- und Frauenverteidigungskräfte YPG/YPJ aus Rojava, die ihnen einen Korridor in die Sicherheit freikämpften, den sie immer noch zusammen mit den Kämpfern der Volksverteidigungskräfte der PKK, der HPG und der Frauenarmee YJA Star, sowie einer neu geschaffenen Einheit der Eziden, den Verteidigungseinheiten des Widerstandes von Sengal YBS, offen halten. In Sengal wurden nach Schätzungen der UN 5000 Menschen durch Massaker des IS getötet, weitere 5000 entführt. Frauen wurden oft auf Sklavenmärkten in Mossul und weiteren Städten verkauft. Durch den Korridor konnten ca. 100000 Menschen den Kriegsverbrechen des IS entkommen. 

Wir haben das Flüchtlingslager Newroz im Kanton Cizîrê besucht. Vor den Ereignissen von Sengal gab es dort schon ein kleines Lager mit einigen 100 Flüchtlingen, das dann für die ezidischen Kurden entsprechend vergrößert wurde.

Die meisten Zelte sind mittlerweile vom UNHCR, der sich sonst nicht an der Versorgung der Flüchtlinge beteiligt. Verhandlungen mit Damaskus über den Zugang des UNHCR scheint es nicht zu geben. Zweimal pro Woche kommen UNHCR Mitarbeiter aus Damaskus oder Qamislo – es gibt keine weitere Hilfe. Da das UNHCR hauptsächlich lediglich mit dem Assad-Regime zusammen arbeitet, kommt im Newroz-Camp nur wenig Hilfe an. Das UNHCR hat jedoch versprochen, die Zelte nach unten zu isolieren, sprich winterfest zu machen, bevor der Winter kommt. Das ist auch notwendig, da die Menschen sonst erfrieren würden.

Der Kanton Cizire versorgt das Camp mit den wenigen vorhandenen Mitteln und kümmert sich auch um Wasser und Strom. Den freiwilligen HelferInnen, die vorerst die Verwaltung des Camps übernommen haben, fehlt es zum Teil an Fachwissen und Schulungen. Das kompensieren sie jedoch mit Engagement und Kreativität. Nur ab und zu erreichen LKW aus Nord-Kurdistan (Südost-Türkei) das Camp – wenn die KDP oder die Türkei sie durchlassen - denn derzeit betreiben die türkische Regierung und die Regierung der Autonomiegebiete im Nordirak ein Embargo gegen Rojava. Die Föderation der Ezidischen Vereine in Deutschland und Europa sendet regelmäßig Hilfe. Zurzeit wird ein Medikamententransport an der Grenze in Nisêbîn (Nusaybin) festgehalten. Der kurdische Rote Halbmond (Heyva Sor a Kurd) übernimmt die medizinische Versorgung und psychologische Betreuung der Flüchtlinge – aber auch hier fehlt es an Fachpersonal. Die Bevölkerung von Cizîrê ist dem Aufruf der Übergangsregierung zu spenden gefolgt, obwohl sie selbst wegen des Embargos Mangel an Allem hat. Viele ezidische Flüchtlinge sind in Rojava auch bei Familien untergekommen. 

Aufgrund von Propaganda, dass der IS ganz Rojava besetzen werde, waren tausende Menschen zuerst weiter in den Nordirak geflohen – nun wollen Viele aufgrund der schlechten Behandlung in den Einrichtungen im Nordirak zurückkehren, denn die Flüchtlingslager in den kurdischen Autonomiegebieten im Nordirak sind Berichten zufolge wenig menschenwürdig. Wir sahen dort Menschen die über hohe Stacheldrahtzäune eines Massenlagers flohen. Weitere Flüchtlinge leben in Hochhausrohbauten in Dohuk oder unter Brücken. Die KDP (Regionalregierung der Autonomiegebiete Kurdistans) verhindert oft die Rückkehr der Menschen nach Rojava unter dem Vorwand bürokratischer Hürden an der Grenze. Zudem werden den Flüchtlingen dort Lügen erzählt, dass die Verantwortlichen in Rojava sie nicht aufnehmen wollten. Die KDP selbst will sich offenbar mit der Flüchtlingsfrage profilieren.

Im Newrozcamp in Rojava fehlt es nicht an Menschlichkeit, jedoch an materiellen Gütern. Sanitäre Anlagen werden gebaut, sind aber erst teilweise in Betrieb. Es gibt drei Kochzelte, in denen gekocht wird - Flüchtlinge, sofern sie in der Lage sind, werden bei der Essenvorbereitung und auch der Verwaltung des Camps mit einbezogen. Ziel ist es den Menschen die Möglichkeit zu geben selbst zu kochen und so weit es geht eigenständig zu leben. Es werden Komitees für die unterschiedlichen Bereiche gebildet - u.a. für Bildung in kurdisch und arabisch, für Frauen, für die Versorgung, für die Verwaltung und weitere Bereiche.

Eigentlich ist das Ziel der Verwaltung die Flüchtlinge in das "normale" Leben einzubinden. Es gibt allerdings kaum die Möglichkeit außerhalb des Camps zu arbeiten, da es in der gesamten Region an Arbeitsplätzen mangelt.

Die Flüchtlinge im Lager sollen sich letztendlich selbst verwalten. Der Umgang der Verwaltung mit den Flüchtlingen ist solidarisch, egalitär und respektvoll. Trotz dem Mangel an Materiellem ist die Atmosphäre im Newrozcamp wesentlicher humaner als in den Camps im Nordirak oder deutschen Flüchtlingslagern. Es wird versucht den Menschen ihre Würde zurück zu geben. Es ist auch geplant eine Schule einzurichten. Bis jetzt gibt es eine ständige Betreuung der Kinder. 

Die medizinische Versorgung ist im ganzen Kanton schlecht. Wegen des Embargos gibt es kaum Medikamente. Besonders fehlen Medikamente für chronische Krankheiten wie Diabetes, Bluthochdruck, Herz- und Nierenkrankheiten. Ein großes Problem ist Krätze, eine Krankheit, die bedingt durch den Mangel an Hygiene entsteht. Im Lager leben zurzeit 58 Personen mit Gehbehinderungen, für die es keine Prothesen und Hilfsmittel gibt. Im Lager arbeiten ein Arzt und ein Apotheker, der allerdings kaum Medikamente zur Verfügung hat. Flüchtlingshilfe wird unter kapitalistischen Bedingungen zum bürokratischen Aufwand, erklärt eine Helferin.

Der Kanton Cizîrê versorgt auch die Menschen die noch in den Bergen von Sengal leben. In der Region Sengal leben in einigen Dörfern noch ca. 50.000 Menschen – in den Bergen befinden sich noch ca. 15.000. Letztendliches Ziel der Verwaltung des Newrozcamps ist, dass die Menschen zurück nach Sengal gehen können, wenn sie wollen – deshalb sollte die Region komplett vom IS befreit werden.

Die noch in Sengal lebenden Menschen werden durch den von der YPG freigekämpften Korridor versorgt und von YPG/YPJ und YBS geschützt. Dabei sind die LKWs mit den Hilfsgütern ständigen Angriffen des IS ausgesetzt, und es ist schwer Fahrer zu finden. 

Die Hilfsorganisationen aus Rojava berichten: „Wir haben ezidische Kinder und Frauen sterben und vor unseren Augen verdursten sehen. Während unseren Hilfsaktionen wurden wir ununterbrochen von IS beschossen“. Des Weiteren wurde uns berichtet, dass der Weg für die Überlieferungen von Gütern sprich Lebensmittel und alle anderen notwendigen Materialien sehr gefährlich ist. Bisher haben die Hilfsorganisationen, welche in keiner Weise von staatlichen oder anderen Organisationen unterstützt werden, 56 LKW mit Hilfsgütern nach Sengal gebracht. Die Fahrer müssen in den 7 Stunden Fahrtzeit dauerhaft damit rechnen getötet zu werden, da sie unter Dauerbeschuss durch die IS stehen. Bei einem LKW wurden die Reifen zerschossen – dieser liegt immer noch brach.


Türkei und KDP (Regionalregierung Kurdistans / Nord-Irak) verhindern jegliche Transporte wichtiger Hilfsgüter. Das Embargo und die Nicht-Anerkennung der Selbstverwaltungsstrukturen von Rojava sind ein großes Problem auch und vor allem zurzeit für die zehntausend Flüchtlinge. Ezidische Flüchtlinge bezeichnen das Vorgehen der KDP in Sengal als Verrat – die Peschmerga hatten sich vor den Angriffen des IS kampflos zurückgezogen und ihnen zum Teil vorher noch die Waffen abgenommen.

Ohne den Einsatz der YPG (Volksverteidigungseinheiten) und HPG (Volksverteidigunskräfte) hätte es ein weit größeres Massaker gegeben – dem sind sich alle Betroffenen bewusst.

Es ist ein Armutszeugnis dass es nicht gelingt die Flüchtlinge vor Ort menschenwürdig zu versorgen. Waffen an die KDP-Regierung kommen an, humanitäre Hilfe nicht.

Weitere Pläne der Newrozcamp-Verwaltung sind:

Kurzfristig: Ärzteteams und Psychologen werden sofort benötigt.
Langfristig: Intensive psychologische Betreuung und Trauma-Aufarbeitung soll entwickelt werden.

Unsere Forderungen:

Das Embargo gegen Rojava seitens der türkischen Regierung und der Regionalregierung der kurdischen Autonomiegebiete muss sofort aufgehoben werden!

Die Bundesregierung und das UNHCR müssen die Übergangsregierung in Rojava als Dialogpartner einer föderalen Struktur anerkennen und sofort humanitäre Hilfe an das Newrozcamp in ausreichendem Umfang leisten!

Solidarische Menschen aus dem medizinischen, sozialen und pflegerischen Bereich können sich an der Arbeit im Newrozcamp beteiligen. Sie sind willkommen!