Berichte 2014

Demokratische Selbstverwaltung und Selbstverteidigung in Rojava/Nordsyrien

Im Norden Syriens haben sich die KurdInnen gemeinsam mit sämtlichen dort lebenden Bevölkerungs- und Religionsgruppen in demokratischen Selbstverwaltungsstrukturen (TEV DEM) basisdemokratisch organisiert. Die Region heisst Rojava (Westkurdistan). Auf drei nicht zusammenhängende Kantone, Cizire, Kobani und Afrin verteilt leben rund 6 Millionen Menschen, darunter 4 Millionen KurdInnen, eine Million Angehörige weiterer Bevölkerungsgruppen und zwischen 800000 eine Million Flüchtlinge aus den anderen Teilen Syriens. Entlang der türkisch-syrischen Grenze liegen zwischen den drei Kantonen Herrschaftsgebiete der dschihadistischen Gruppe Islamischer Staat (IS). Die Assad Regierung hat sich aus der Region bis auf einige wenige Enklaven zurückgezogen. Dazu gehört u.a. der Flughafen von Quamislo, als strategisch wichtiger Ort.
Die Übergangsregierung von Cizire und die Delegation
„Die multiethnischen und multireligiösen Selbstverwaltungsstrukturen, die wir momentan in Rojava aufbauen, könnten ein Modell für ein an friedlichen und humanistischen Maßstäben orientiertes Zusammenleben aller Menschen im Mittleren Osten sein“, betont Scheich Hamidy al-Jarba, Präsident der Übergangsregierung des Kantons Cizire im Gespräch. Er ist Stammesführer des größten und ältesten arabischen Stammes in der Region, den Shammar. Über den Mittleren Osten und Nordafrika verteilt gehören dem Stamm mehrere Millionen Menschen an. Hamidy al-Jarba sieht in einer selbstbestimmten, respektvollen,  gemeinsamen Organisierung in Rojava die einzig stabile Zukunftsperspektive.


Basisdemokratische Strukturen organisieren sich in Rojava in Komitees, die in Stadtteilen und Dörfern gebildet werden. Sie entwickeln einen gemeinsamen Umgang für sämtliche Belange des Alltags. Das betrifft u.a. Bildung, Gleichberechtigung der Frau, Sicherheit, wirtschaftlichen Aufbau, Landwirtschaft, Religionsfragen und Konfliktlösung. Die Komitees bilden in einem Delegiertensystem Räte, die in jedem der drei Kantone eine Übergangsregierung gewählt haben. Diese bestehen jeweils aus ca. 20 Personen, die unterschiedlichen religiösen und ethnischen Bevölkerungsgruppen angehören. Die Übergangsregierung hat in Zusammenarbeit mit einem Komitee bereits eine Verfassung erarbeitet. In nächster Zeit sind reguläre Wahlen geplant. Aufgrund der aktuellen Angriffe auf Rojava (s.u.) steht der genaue Zeitpunkt noch nicht fest. Aufgrund des Embargos durch die umliegenden Kräfte, hauptsächlich der Türkei und der kurdischen Autonomiegebiete herrscht  Mangel an Lebensmitteln und Medikamenten. Die Selbstverwaltungsstrukturen entwickeln deshalb schrittweise eine möglichst autarke Versorgung mit Landwirtschaftsprodukten und existenziell notwendigen Gütern. Die Monokulturen in der ehemaligen „Kornkammer“ Syriens umzufunktionieren ist allerdings nicht einfach. Mittlerweile werden auf Initiative der Versorgungskomitees Tomaten, Gurken, Wassermelonen, Honigmelonen, Kartoffeln und weitere Produkte intensiver angebaut.

Generator für die Stromversorgung 
„In Cizire leben verschiedene ethnische Gruppen wie KurdInnen, AraberInnen, ArmenierInnen und TschetschenInnen und Religionsgruppen und Glaubensgemeinschaften wie EzidInnen, assyrische und chaldäische ChristInnen sowie sunnitische und einige wenige schiitische Moslems. Es ist wichtig, dass sich die Menschen an der Gestaltung der Gesellschaft und des täglichen Lebens beteiligen. Der Mensch und nicht bürokratische Abläufe stehen in unserer Gesellschaft im Mittelpunkt des Wirkens. Nur in gemeinsamer Arbeit und im Bewusstsein der politischen und geostrategischen Situation können wir Lösungen entwickeln“, erklärt Hediya Yusuf, die Präsidentin von Cizire. 

Leitungsfunktionen werden in Rojava jeweils gleichberechtigt von einem Mann und einer Frau besetzt, in sämtlichen Gremien gilt eine 40% Quotierung für Frauen. „SunnitInnen, Schiitinnen, assyrische und chaldäische Christinnen sowie EzidInnen versuchen hier, im Gegensatz zum Chaos in der Region, konstruktiv zusammenzuarbeiten. Aus der Vielfalt der Ethnien, Religionen und Kulturen, die hier verwurzelt sind, beziehen wir unsere Stärke und Stabilität“, so Hediya Yusuf weiter. Es sei nicht immer einfach die Menschen trotz völlig unterschiedlicher Sozialisationen und Lebensweisen sowie immensem militärischen und strukturellen Druck von regionalen und internationalen Kräften zusammen zu bringen. In den letzten zwei Jahren habe das Projekt der gemeinsamen Selbstverwaltung in Rojava jedoch eine sehr positive Dynamik angenommen und Bewusstseinsbildungsprozesse ausgelöst, die Unumkehrbar sind und  vielen Menschen Hoffnung und eine Zukunftsperspektive geben. Eine schrittweise Synthese der Stärken und Errungenschaften der jeweiligen Bevölkerungsgruppen und Traditionslinien zu entwickeln sei dabei ein zentrales Moment.


Angriffe der Dschihadisten des Islamischen Staates IS
Die Gruppe Islamischer Staat (IS) versucht allerdings seit zwei Jahren diese Selbstverwaltungsstrukturen anzugreifen und zu zerstören. Seit Juni 2014 attackieren die Dschihadisten auch im Nordirak KurdInnen, TurkemenInnen sowie ChristInnen und EzidInen. Sie begehen dabei systematisch Kriegsverbrechen. „Die IS wurde seit der Intervention der USA im Irak im Jahr 2003 von unterschiedlichen internationalen und regionalen Kräften aufgebaut und/oder geduldet. Jeder der beteiligten Akteure hatte unterschiedliche Motive zu versuchen die dschihadistische Gruppe zu unterstützen bzw. zu instrumentalisieren. Die USA wollten IS als destabilisierende Kraft in der Region installieren. Die syrische Regierung wollte sie instrumentalisieren, um die Freie Syrische Armee (FSA) zu bekämpfen und die Opposition zu spalten. Der Iran hat sich diesem Ziel als Verbündeter des Assad Regimes angeschlossen. Die Demokratische Partei Kurdistans (KDP) von Mesud Barzani wollte die Öcalan nahe PYD schwächen, um in Rojava/Nordsyrien ihre eigene Position zu stärken. Die türkische Regierung wollte mit aller Macht verhindern, dass sich die selbstverwalteten Strukturen in Rojava stabilisieren, um die eigene regionale Vormachtstellung zu erhalten und eine etwaige positive Auswirkung auf das Selbstbewusstsein der Kurden im eigenen Land zu verhindern,“ erklärt Abdelrahman Hamu, Öffentlichkeitsreferent der Übergangsregierung von Cizire.


Karte von Rojava
Mit ihrer instrumentell orientierten Politik waren diese Akteure allerdings wenig erfolgreich. Sie hätten jeweils versucht ihre eigenen Ziele durchzusetzen und dabei die angestrebte Kontrolle über die Dschihadisten verloren, bzw. die Wirkungsweise und Dynamik der Selbstorganisierung und Selbstfinanzierung von IS unterschätzt. Die Terrororganisation habe sich nicht als lenkbare Marionette erwiesen, sondern versucht ein Kalifat mit rigider Auslegung der Scharia zunächst im Irak und in Syrien und darauf folgend  im Iran zu errichten. Andere Religions- und Bevölkerungsgruppen werden dabei als zu vernichtende Feinde definiert. IS betreibt eine Politik der ethnischen und religiösen Säuberungen. Die Terrororganisation begeht Massaker und Vergewaltigungen. Sie verkauft entführte Frauen auf Sklavenmärkten und verwehrt im Allgemeinen Frauen systematisch ihre Rechte.
„Insbesondere seitens der USA und weiterer westlicher Kräfte wird versucht eine eigene Version des Islam im Mittleren Osten durchzusetzen. Ziel der Dämonisierung ist die Spaltung der Moslems, dass sie sich nicht mehr über den Islam identifizieren und sich nicht mehr zur Religionskultur bekennen. Es ist vorgesehen, dass die Menschen sich von einer derart menschenverachtenden Interpretation der Religion abwenden. Dann soll eine nicht mehr rein religiöse, sondern eine religiös-nationalistische oder eine religiös-wirtschaftsorientierte Selbstdefinition durchsetzungsfähig werden“, so  Abdelrahman Hamu.

Im Rahmen einer derartigen Teile und Herrsche Strategie ist offenbar angedacht, die Grenzen in der Region, die 1916 im Rahmen der kolonialen Aufteilung des Mittleren Ostens gezogen wurden, neu zu ordnen. „Auf diese Weise versuchen die USA, die zentralen Akteure der EU und einige mit ihnen verbündete internationale und regionale Akteure neue Märkte nach eigenem Bedarf zu erschließen – oder besser gesagt zu schaffen – und die  Sicherung von Ressourcen und Handelswegen zu betreiben. Es handelt sich um einen Verteilungskrieg moderner Ausprägung,“ so Hamu.



Gespräch mit Redur Xelil, Sprecher der Volksverteidigungseinheiten in Rojava/Nordsyrien
 
Redur Xelil
Seit 73 Stunden herrscht eine ununterbrochene Auseinandersetzung um Kobané, den mittleren der drei Kantone von Rojava an der Grenze zur Türkei. Die Terrororganisation Islamischer Staat (IS) hat hier einen Großangriff mit modernsten schweren Waffen gestartet, die sie in Mossul erobert hat.   Per Zug wurden nun zusätzlich über die Türkei Panzer und große Geschütze direkt an die türkisch-syrische Grenze gebracht. Die Kämpfer der Volksverteidigungseinheiten YPG sind von drei Seiten gleichzeitig in heftige Abwehrkämpfe verwickelt und leisten Widerstand gegen IS, die mehrere Dörfer eingenommen hat. Es wird von einer großen Anzahl getöteter Dschihadisten und einigen gefallenen Mitgliedern der Selbstverteidigungseinheiten berichtet.

Trotz der heftigsten Angriffe auf Rojava seit 2011 findet Redur Xelil Zeit unsere Fragen zu beantworten. Wir sitzen in seinem Büro im Souterrain eines Hauses mitten in Qamishlo, der Hauptstadt des östlichsten Kantons Cizire im Dreiländereck von Syrien, Türkei und Irak. Die YPG begreift sich als überethnische und überreligiöse Verteidigungseinheit zum Schutz der Bevölkerung vor den Angriffen islamistischer Gruppen und regionaler Mächte. Sie wurde aus der Notwendigkeit von Selbstverteidigung von derart umkämpften Regionen wie Kurdistan gegründet.

Redur Xelil schildert die politische und militärische Situation mit großer Offenheit und Klarheit. Er erklärt die extrem gute Ausrüstung der Terroristen des IS von amerikanischen Panzern über deutsche Milan-Raketen bis zu modernsten Wärmedetektoren. IS kontrolliert eine Region vom irakischen Mossul über Tikrit nach Syrien über Süd-Hassake nach Kobane  und kann deshalb ohne größere Probleme Waffen verschieben. Kämpfer aus den Kriegen in Afghanistan, Irak und Somalia, ergänzt von Soldaten der Armee Saddam Husseins haben das nötige Wissen zur Bedienung der modernen Waffen und schulen IS Kämpfer im Umgang damit.


Plakate der YPG in Quamislo
Die YPG, die Rojava schon drei Jahre lang erfolgreich gegen IS verteidigt, besitzt keine gleichwertigen Waffen. Sie bezieht Kraft und Erfolg aus ihrem unbedingten Widerstandswillen, die Menschen in Rojava zu verteidigen. Allerdings ist die Lage sehr ernst. Während die PKK ihre Unterstützung ansagte und 3000 Guerillas nach Kobani schickt, hält sich die KDP von Mesud Barzani zurück und entsendet keine Peschmerga. Im Gespräch im Newroz Flüchtlingscamp in Derik im Kanton Cizire hatten wir zuvor erfahren, dass die aus Sengal geflohenen ezidischen Flüchtlinge sich von der KDP verraten fühlen, da die Peschmerga sich kurz vor den Angriffen und Kriegsverbrechen der IS kampflos aus Sengal zurückzogen hatten. YPG und PKK erkämpften daraufhin einen Korridor, durch den zehntausende Menschen fliehen konnten.

Die Luftangriffe der Amerikaner auf IS-Stellungen im Irak erklärt Redur Xelil für nicht aufrichtig, denn das Zentrum und die Hauptstellungen der Terrororganisation befinden sich in Syrien. Die Angriffe der USA würden den IS aus dem Irak nach Syrien treiben, wo er sich dann vornehmlich gegen die kurdischen Gebiete/Rojava richte. Die jetzt vom US-Kongress bestätigte Entscheidung, „gemäßigte Rebellen“ in Syrien auszurüsten, zu bewaffnen und in Saudi Arabien auszubilden, begegnet Redur Xelil mit einem Achselzucken: Ob Free Syrien Army (FSA), Al Nusra Front oder Islamische Front: sie seien ideologisch nicht weit weg vom IS und zu schwach, um einen derart aufgerüsteten, aggressiven Gegner zu bekämpfen.

Bleibt die Frage, warum die USA nicht die YPG in Rojava unterstützt. Die Erklärung des Sprechers der YPG aus diesem umkämpften Gebiet bestätigt nur das Naheliegende: Die Regierung der USA und ihre Verbündeten haben aufgrund ihrer ökonomischen und politischen Interessen seit Jahren die KDP im Norden des Irak unterstützt. Demgegenüber seien die Menschen in Rojava nicht von vergleichbarem strategischen Interesse, die Selbstverwaltung dort eher links positioniert. Sie hätten von Anfang an das US-amerikanische Projekt im Mittleren-Osten nicht unterstützt. Der tiefere Grund für die Nichtanerkennung und Nichtunterstützung der demokratischen Strukturen in Rojava liege allerdings darin, dass das Modell der Demokratischen Selbstorganisierung im Widerspruch zur kapitalistischen Moderne stehe. Deshalb unterstütze man sie nicht im Kampf gegen die Angriffe des IS. Das entbehrt nicht einer einsehbaren Logik, ist allerdings Zeugnis einer zynischen und menschenfeindlichen Logik.

Für Redur Xelil gibt es keine Zweifel, dass die USA mit ihrem militärischen Potential den IS in kürzester Zeit vernichten könnte. Mit modernen Waffen wie Drohnen und zielgenauen Lenkwaffen wäre das kein Problem. Die Terrororganisation werde allerdings als destabilisierende Kraft gebraucht und benutzt. Sie solle eine Atmosphäre von Angst und Schrecken im gesamten Mittleren Osten verbreiten. Nach Angriffen der IS sollten die Menschen in den Regionen dann die USA um Hilfe bitten. Auch in Europa werde diese Angst vor dem Näherrücken des Terrors geschürt. Wenn es die Regierung der USA mit ihrer Bekämpfung der IS ernst meine, müsste sie dagegen das Zentrum der IS in Syrien angreifen. Sämtliche regionalen und internationalen Akteure hätten das Entstehen und Wachstum von ISIS (Islamischer Staat im Irak und Syrien), wie sich IS zuvor nannte, beobachten können, man habe aber bewusst weggeschaut und die Terrororganisation gefördert, um sie zu benutzen.

Wir bekommen Dokumente gezeigt, die beweisen, dass der Terror aus und über die Türkei nach Syrien reist. Pässe, Ausweise, Militärmarken, Listen von Kämpfern und Waffen die Mitgliedern der IS und der Al Nusra Front aus Libyen, Tunesien, Bahrein und der Türkei abgenommen wurden. Redur Xelil ist ein politisch klarsichtiger Freiheitskämpfer, illusionslos und ohne ideologische Barrieren. Die YPG schützt offensichtlich die Menschen vor systematischen Angriffen auf eine funktionierende demokratische Gesellschaftsstruktur, die für den gesamten Mittleren Osten als Vorbild dienen könnte.

Wir fordern die Bundesregierung dringend auf, ihren ganzen Einfluss auf die türkische Regierung auszuüben, dass sie die Grenze zu Syrien für die IS schließt und die Unterstützung der Terrororganisation sofort beendet. Zudem muss das Embargo gegen die Selbstverwaltung und Menschen in Nordsyrien/Rojava sofort aufgehoben werden. Auch die Humanitäre Hilfe für die ezidischen Flüchtlinge muss auf Rojava ausgeweitet werden.

Nach den Ereignissen von Sengal erleben wir einmal mehr, dass es die Verteidigungseinheiten  der Selbstverwaltung in Rojava (YPG) und der PKK sind, die die Bevölkerung vor Kriegsverbrechen, wie Mord, Vergewaltigung, Versklavung und Vertreibung zu schützen versuchen.


Gespräch im Ministerium zum Schutz der Frauen

In Cizire wurde, wie in jedem anderen der drei Kantone von Rojava, ein Ministerium zum Schutz der Frauen gegründet. In diesem Ministerium arbeiten fünf Kommissionen – Gesundheit, Kinder, Projekte, Recht und Öffentlichkeit. Insgesamt gibt es die Unterteilung in langfristige und kurzfristige Projekte.

Geplant und zum Teil schon umgesetzt ist der Aufbau von Frauen- und Jugendzentren, in denen unter Anderem Traumaaufarbeitung und psychologische Betreuung umgesetzt werden soll. Viele Frauen und Kinder sind vom Krieg traumatisiert, andere durch feudale Strukturen oder das Assadregime. Es gibt bereits ein Projekt zur Unterstützung von Witwen von im Krieg Gefallenen.

Momentan erarbeitet das Ministerium gemeinsam mit den Frauenkomitees in den Rätestrukturen der Stadtteile und Dörfer Gesetzentwürfe zur Stärkung der Rechte der Frauen. Polygamie bzw. Mehrfachheirat soll verboten, das Alter der Heiratsfähigkeit auf 18 Jahre heraufgesetzt werden. Insgesamt ist geplant die Frauenrechte auf allen gesetzlichen Ebenen soweit wie möglich festzuschreiben und so Schrittweise auf der juristischen Ebene, parallel zu gesellschaftlichen Prozessen, die Gleichberechtigung durchzusetzen.

Das Ministerium führt zudem eine soziologische Studie durch. Frauen werden systematisch u.a. über ihren Bildungsstand, Gesundheitszustand und Probleme im Alltag befragt, um eine Politik entwickeln zu können, die an den Bedürfnissen der Gesellschaft orientiert ist.

Mit den ezidischen Frauen im Newroz-Flüchtlingscamp setzt das Ministerium zum Schutz der Frauen ein Projekt um, in dessen Rahmen eine Studie über die erfahrenen Kriegsverbrechen durch den IS und die Erlebnisse auf der Flucht erstellt wird. Darüber hinaus soll auch auf internationaler Ebene mit PsychologInnen und MenschenrechtlerInnen zusammengearbeitet werden, um die Traumata aufzuarbeiten und Techniken des Umgangs damit erlernen zu können. Erfahrene Fachkräfte, die Interesse haben sich daran zu beteiligen, sind herzlich eingeladen.



Gespräch in der Frauenakademie

In jedem der drei Kantone von Rojava gibt es eine Frauenakademie. Dort werden Frauen gemäß der wissenschaftlichen Methode der Jineologie/Frauenwissenschaft unterrichtet.

Unterricht in der Frauenakademie
Jineologie/Frauenwissenschaft ist eine moderne Wissenschaft, die auf der Analyse der bisherigen Wissenschaftsmethoden und einer Synthese der Lehransätze der letzten fünf Jahrtausende beruht. Die Frauen in der Akademie gehen davon aus, dass die herkömmliche Geschichtsschreibung und Wissenschaft die eigentlichen AkteurInnen der Geschichte – die Bevölkerung – und noch weitergehend die Frauen, systematisch aus der Geschichtsschreibung und oft auch aus der Wissenschaftsentwicklung ausgeblendet hat. Die handelnden Menschen werden im Gegensatz zu den Herrschenden kaum erwähnt. Diese eingeschränkte Sichtweise soll überwunden werden. Es geht darum zentrale Fragen zu stellen: Warum sind bestimmte Ereignisse geschehen? Wer hat wann, wie und warum gehandelt? Wer hat welche Rolle in den Gesellschaften eingenommen oder zugewiesen bekommen?

Insbesondere beschäftigen sich die Frauen in den Akademien mit Kultur, Wissenschaft, Sprache, Geschichte und Demokratietheorie. Ein zentraler Diskussionsstrang ist, auf welche Weise die Demokratie in den letzten Jahrhunderten auf negative Weise in die Gesellschaften eingeführt wurde – und wie das in Zukunft verbessert werden kann.

Insgesamt gibt es 12 Fachbereiche, die in mehrwöchigen Kursen unterrichtet werden. In dieser Zeit leben die Frauen gemeinsam in der Akademie und gestalten das Leben kollektiv.

„Die Frauenwissenschaft soll weiterentwickelt werden – es handelt sich nicht um eine Ideologie – da das zu eingeschränkt wäre“, erläutert unsere Gesprächspartnerin, Dolcin Akin. „Die Wissenschaften in Europa haben es nicht geschafft angemessene Lösungen für die gesellschaftlichen Probleme zu finden. Auch der Feminismus blieb oft an einer Stelle stehen und reproduzierte letztendlich patriarchale Strukturen. Wir setzen uns hier damit auseinander, was zu gesellschaftlichen Spaltungsprozessen und Hierarchien geführt hat und wie wir diese überwinden können. Vor fünf bis sechstausend Jahren wurde die Frau als Gottheit verehrt und dann bis Heute kontinuierlich schrittweise immer weiter von Achtung sowie Teilhabe ausgegrenzt.

Wir sind jetzt an einem Punkt angekommen, an dem wir als Frauen wieder anerkannt werden wollen und Einfluss auf das Leben, auf die Kultur, die Wirtschaft und Finanzen, die Geschichte und Politik nehmen.

Mit einer humanistischen Ethik und den Erkenntnissen der Jineologie wollen wir eine tiefgreifende Veränderung der Gesellschaft herbeiführen.

  1. In der Geschichtsschreibung wird die Frau nicht erwähnt – das muss sich ändern
  2. In der Politik ist die Frau nicht vorhanden – und wenn oft in patriarchalerer Form als Männer – das muss sich ändern
  3. Die Entscheidung über das Kinderkriegen muss der Frau überlassen werden – gerade in den Gesellschaften des Mittleren Ostens entscheidet das meist der Mann
  4. Beziehungen und Familie beruhen auf Besitzdenken – wir streben dagegen freie und demokratische Beziehungen und Partnerschaften an
  5. Die Versklavung der Frau muss überwunden werden – Die Frau muss als eigenständiges Wesen an der Gesellschaft teilnehmen können

Ethik und Ästhetik bilden eine Einheit – in der jetzigen Gesellschaft wird das oft voneinander getrennt. Wir trennen dagegen nicht unsere innere und äußere Schönheit.

Die kapitalistische Gesellschaft beruht auf Ausgrenzung. Das ist die Grundlage für Krieg. Die in der kapitalistischen Ideologie enthaltenen Prinzipien der Konkurrenz und des Profitdenkens sowie des Konsums sind entscheidende Grundlagen der gesellschaftlichen Spaltung.

Eine Wissenschaft die nicht aus der Mitte der Bevölkerung entsteht, wird lediglich von Eliten verwendet, um die Menschen zu unterdrücken. Wir wollen dagegen gemeinsam mit allen Menschen eine Wissenschaft entwickeln, die für alle gesellschaftlichen Bereiche und für jeden Menschen anwendbar ist und den Menschen ermöglicht, sich schrittweise zu befreien. Durch die Frauenwissenschaft wollen wir ein Teil der Demokratie und des Demokratisierungsprozesses sein. In unserer Wissenschaft steht die Persönlichkeitsentwicklung im Vordergrund. Die Kommunen und Räte sind Teil dieses Entwicklungsprozesses.

Ein weiteres Ziel der Frauenwissenschaft ist der Schutz und die Verteidigung der demokratischen Gesellschaft. Darin spielen Respekt, Recht, Ökologie und Ökonomie eine große Rolle. Wir bieten Unterrichtseinheiten meist ausschließlich für Frauen an. Einige Kurse sind auch für Männer geöffnet.“