Demokratische Selbstverwaltung und Selbstverteidigung in Rojava/Nordsyrien
Im Norden Syriens haben sich die KurdInnen gemeinsam mit sämtlichen dort lebenden Bevölkerungs- und Religionsgruppen in demokratischen Selbstverwaltungsstrukturen (TEV DEM) basisdemokratisch organisiert. Die Region heisst Rojava (Westkurdistan). Auf drei nicht zusammenhängende Kantone, Cizire, Kobani und Afrin verteilt leben rund 6 Millionen Menschen, darunter 4 Millionen KurdInnen, eine Million Angehörige weiterer Bevölkerungsgruppen und zwischen 800000 eine Million Flüchtlinge aus den anderen Teilen Syriens. Entlang der türkisch-syrischen Grenze liegen zwischen den drei Kantonen Herrschaftsgebiete der dschihadistischen Gruppe Islamischer Staat (IS). Die Assad Regierung hat sich aus der Region bis auf einige wenige Enklaven zurückgezogen. Dazu gehört u.a. der Flughafen von Quamislo, als strategisch wichtiger Ort.
Im Norden Syriens haben sich die KurdInnen gemeinsam mit sämtlichen dort lebenden Bevölkerungs- und Religionsgruppen in demokratischen Selbstverwaltungsstrukturen (TEV DEM) basisdemokratisch organisiert. Die Region heisst Rojava (Westkurdistan). Auf drei nicht zusammenhängende Kantone, Cizire, Kobani und Afrin verteilt leben rund 6 Millionen Menschen, darunter 4 Millionen KurdInnen, eine Million Angehörige weiterer Bevölkerungsgruppen und zwischen 800000 eine Million Flüchtlinge aus den anderen Teilen Syriens. Entlang der türkisch-syrischen Grenze liegen zwischen den drei Kantonen Herrschaftsgebiete der dschihadistischen Gruppe Islamischer Staat (IS). Die Assad Regierung hat sich aus der Region bis auf einige wenige Enklaven zurückgezogen. Dazu gehört u.a. der Flughafen von Quamislo, als strategisch wichtiger Ort.
Die Übergangsregierung von Cizire und die Delegation |
Basisdemokratische Strukturen organisieren sich in Rojava in Komitees, die in Stadtteilen und Dörfern gebildet werden. Sie entwickeln einen gemeinsamen Umgang für sämtliche Belange des Alltags. Das betrifft u.a. Bildung, Gleichberechtigung der Frau, Sicherheit, wirtschaftlichen Aufbau, Landwirtschaft, Religionsfragen und Konfliktlösung. Die Komitees bilden in einem Delegiertensystem Räte, die in jedem der drei Kantone eine Übergangsregierung gewählt haben. Diese bestehen jeweils aus ca. 20 Personen, die unterschiedlichen religiösen und ethnischen Bevölkerungsgruppen angehören. Die Übergangsregierung hat in Zusammenarbeit mit einem Komitee bereits eine Verfassung erarbeitet. In nächster Zeit sind reguläre Wahlen geplant. Aufgrund der aktuellen Angriffe auf Rojava (s.u.) steht der genaue Zeitpunkt noch nicht fest. Aufgrund des Embargos durch die umliegenden Kräfte, hauptsächlich der Türkei und der kurdischen Autonomiegebiete herrscht Mangel an Lebensmitteln und Medikamenten. Die Selbstverwaltungsstrukturen entwickeln deshalb schrittweise eine möglichst autarke Versorgung mit Landwirtschaftsprodukten und existenziell notwendigen Gütern. Die Monokulturen in der ehemaligen „Kornkammer“ Syriens umzufunktionieren ist allerdings nicht einfach. Mittlerweile werden auf Initiative der Versorgungskomitees Tomaten, Gurken, Wassermelonen, Honigmelonen, Kartoffeln und weitere Produkte intensiver angebaut.
Generator für die Stromversorgung |
Leitungsfunktionen werden in Rojava jeweils gleichberechtigt von einem Mann und einer Frau besetzt, in sämtlichen Gremien gilt eine 40% Quotierung für Frauen. „SunnitInnen, Schiitinnen, assyrische und chaldäische Christinnen sowie EzidInnen versuchen hier, im Gegensatz zum Chaos in der Region, konstruktiv zusammenzuarbeiten. Aus der Vielfalt der Ethnien, Religionen und Kulturen, die hier verwurzelt sind, beziehen wir unsere Stärke und Stabilität“, so Hediya Yusuf weiter. Es sei nicht immer einfach die Menschen trotz völlig unterschiedlicher Sozialisationen und Lebensweisen sowie immensem militärischen und strukturellen Druck von regionalen und internationalen Kräften zusammen zu bringen. In den letzten zwei Jahren habe das Projekt der gemeinsamen Selbstverwaltung in Rojava jedoch eine sehr positive Dynamik angenommen und Bewusstseinsbildungsprozesse ausgelöst, die Unumkehrbar sind und vielen Menschen Hoffnung und eine Zukunftsperspektive geben. Eine schrittweise Synthese der Stärken und Errungenschaften der jeweiligen Bevölkerungsgruppen und Traditionslinien zu entwickeln sei dabei ein zentrales Moment.
Angriffe der Dschihadisten des Islamischen Staates IS
Die Gruppe Islamischer Staat (IS) versucht allerdings seit zwei Jahren diese Selbstverwaltungsstrukturen anzugreifen und zu zerstören. Seit Juni 2014 attackieren die Dschihadisten auch im Nordirak KurdInnen, TurkemenInnen sowie ChristInnen und EzidInen. Sie begehen dabei systematisch Kriegsverbrechen. „Die IS wurde seit der Intervention der USA im Irak im Jahr 2003 von unterschiedlichen internationalen und regionalen Kräften aufgebaut und/oder geduldet. Jeder der beteiligten Akteure hatte unterschiedliche Motive zu versuchen die dschihadistische Gruppe zu unterstützen bzw. zu instrumentalisieren. Die USA wollten IS als destabilisierende Kraft in der Region installieren. Die syrische Regierung wollte sie instrumentalisieren, um die Freie Syrische Armee (FSA) zu bekämpfen und die Opposition zu spalten. Der Iran hat sich diesem Ziel als Verbündeter des Assad Regimes angeschlossen. Die Demokratische Partei Kurdistans (KDP) von Mesud Barzani wollte die Öcalan nahe PYD schwächen, um in Rojava/Nordsyrien ihre eigene Position zu stärken. Die türkische Regierung wollte mit aller Macht verhindern, dass sich die selbstverwalteten Strukturen in Rojava stabilisieren, um die eigene regionale Vormachtstellung zu erhalten und eine etwaige positive Auswirkung auf das Selbstbewusstsein der Kurden im eigenen Land zu verhindern,“ erklärt Abdelrahman Hamu, Öffentlichkeitsreferent der Übergangsregierung von Cizire.Karte von Rojava |
Im Rahmen einer derartigen Teile und Herrsche Strategie ist offenbar angedacht, die Grenzen in der Region, die 1916 im Rahmen der kolonialen Aufteilung des Mittleren Ostens gezogen wurden, neu zu ordnen. „Auf diese Weise versuchen die USA, die zentralen Akteure der EU und einige mit ihnen verbündete internationale und regionale Akteure neue Märkte nach eigenem Bedarf zu erschließen – oder besser gesagt zu schaffen – und die Sicherung von Ressourcen und Handelswegen zu betreiben. Es handelt sich um einen Verteilungskrieg moderner Ausprägung,“ so Hamu.
Gespräch mit Redur
Xelil, Sprecher der Volksverteidigungseinheiten in Rojava/Nordsyrien
Seit 73 Stunden herrscht eine ununterbrochene
Auseinandersetzung um Kobané, den mittleren der drei Kantone von Rojava an der
Grenze zur Türkei. Die Terrororganisation Islamischer Staat (IS) hat hier einen
Großangriff mit modernsten schweren Waffen gestartet, die sie in Mossul erobert
hat. Per Zug wurden nun zusätzlich über die Türkei Panzer
und große Geschütze direkt an die türkisch-syrische Grenze gebracht. Die
Kämpfer der Volksverteidigungseinheiten YPG sind von drei Seiten gleichzeitig in
heftige Abwehrkämpfe verwickelt und leisten Widerstand gegen IS, die mehrere
Dörfer eingenommen hat. Es wird von einer großen Anzahl getöteter Dschihadisten
und einigen gefallenen Mitgliedern der Selbstverteidigungseinheiten berichtet.
Trotz der heftigsten Angriffe auf Rojava seit 2011 findet Redur Xelil Zeit unsere Fragen zu beantworten. Wir sitzen in seinem Büro im Souterrain eines Hauses mitten in Qamishlo, der Hauptstadt des östlichsten Kantons Cizire im Dreiländereck von Syrien, Türkei und Irak. Die YPG begreift sich als überethnische und überreligiöse Verteidigungseinheit zum Schutz der Bevölkerung vor den Angriffen islamistischer Gruppen und regionaler Mächte. Sie wurde aus der Notwendigkeit von Selbstverteidigung von derart umkämpften Regionen wie Kurdistan gegründet.
Redur Xelil schildert die politische und militärische Situation mit großer Offenheit und Klarheit. Er erklärt die extrem gute Ausrüstung der Terroristen des IS von amerikanischen Panzern über deutsche Milan-Raketen bis zu modernsten Wärmedetektoren. IS kontrolliert eine Region vom irakischen Mossul über Tikrit nach Syrien über Süd-Hassake nach Kobane und kann deshalb ohne größere Probleme Waffen verschieben. Kämpfer aus den Kriegen in Afghanistan, Irak und Somalia, ergänzt von Soldaten der Armee Saddam Husseins haben das nötige Wissen zur Bedienung der modernen Waffen und schulen IS Kämpfer im Umgang damit.
Die YPG, die Rojava schon drei Jahre lang erfolgreich gegen
IS verteidigt, besitzt keine gleichwertigen Waffen. Sie bezieht Kraft und Erfolg
aus ihrem unbedingten Widerstandswillen, die Menschen in Rojava zu verteidigen.
Allerdings ist die Lage sehr ernst. Während die PKK ihre Unterstützung ansagte
und 3000 Guerillas nach Kobani schickt, hält sich die KDP von Mesud Barzani zurück
und entsendet keine Peschmerga. Im Gespräch im Newroz Flüchtlingscamp in Derik
im Kanton Cizire hatten wir zuvor erfahren, dass die aus Sengal geflohenen
ezidischen Flüchtlinge sich von der KDP verraten fühlen, da die Peschmerga sich
kurz vor den Angriffen und Kriegsverbrechen der IS kampflos aus Sengal
zurückzogen hatten. YPG und PKK erkämpften daraufhin einen Korridor, durch den
zehntausende Menschen fliehen konnten.
Die Luftangriffe der Amerikaner auf IS-Stellungen im Irak erklärt Redur Xelil für nicht aufrichtig, denn das Zentrum und die Hauptstellungen der Terrororganisation befinden sich in Syrien. Die Angriffe der USA würden den IS aus dem Irak nach Syrien treiben, wo er sich dann vornehmlich gegen die kurdischen Gebiete/Rojava richte. Die jetzt vom US-Kongress bestätigte Entscheidung, „gemäßigte Rebellen“ in Syrien auszurüsten, zu bewaffnen und in Saudi Arabien auszubilden, begegnet Redur Xelil mit einem Achselzucken: Ob Free Syrien Army (FSA), Al Nusra Front oder Islamische Front: sie seien ideologisch nicht weit weg vom IS und zu schwach, um einen derart aufgerüsteten, aggressiven Gegner zu bekämpfen.
Bleibt die Frage, warum die USA nicht die YPG in Rojava unterstützt. Die Erklärung des Sprechers der YPG aus diesem umkämpften Gebiet bestätigt nur das Naheliegende: Die Regierung der USA und ihre Verbündeten haben aufgrund ihrer ökonomischen und politischen Interessen seit Jahren die KDP im Norden des Irak unterstützt. Demgegenüber seien die Menschen in Rojava nicht von vergleichbarem strategischen Interesse, die Selbstverwaltung dort eher links positioniert. Sie hätten von Anfang an das US-amerikanische Projekt im Mittleren-Osten nicht unterstützt. Der tiefere Grund für die Nichtanerkennung und Nichtunterstützung der demokratischen Strukturen in Rojava liege allerdings darin, dass das Modell der Demokratischen Selbstorganisierung im Widerspruch zur kapitalistischen Moderne stehe. Deshalb unterstütze man sie nicht im Kampf gegen die Angriffe des IS. Das entbehrt nicht einer einsehbaren Logik, ist allerdings Zeugnis einer zynischen und menschenfeindlichen Logik.
Für Redur Xelil gibt es keine Zweifel, dass die USA mit ihrem militärischen Potential den IS in kürzester Zeit vernichten könnte. Mit modernen Waffen wie Drohnen und zielgenauen Lenkwaffen wäre das kein Problem. Die Terrororganisation werde allerdings als destabilisierende Kraft gebraucht und benutzt. Sie solle eine Atmosphäre von Angst und Schrecken im gesamten Mittleren Osten verbreiten. Nach Angriffen der IS sollten die Menschen in den Regionen dann die USA um Hilfe bitten. Auch in Europa werde diese Angst vor dem Näherrücken des Terrors geschürt. Wenn es die Regierung der USA mit ihrer Bekämpfung der IS ernst meine, müsste sie dagegen das Zentrum der IS in Syrien angreifen. Sämtliche regionalen und internationalen Akteure hätten das Entstehen und Wachstum von ISIS (Islamischer Staat im Irak und Syrien), wie sich IS zuvor nannte, beobachten können, man habe aber bewusst weggeschaut und die Terrororganisation gefördert, um sie zu benutzen.
Wir bekommen Dokumente gezeigt, die beweisen, dass der Terror aus und über die Türkei nach Syrien reist. Pässe, Ausweise, Militärmarken, Listen von Kämpfern und Waffen die Mitgliedern der IS und der Al Nusra Front aus Libyen, Tunesien, Bahrein und der Türkei abgenommen wurden. Redur Xelil ist ein politisch klarsichtiger Freiheitskämpfer, illusionslos und ohne ideologische Barrieren. Die YPG schützt offensichtlich die Menschen vor systematischen Angriffen auf eine funktionierende demokratische Gesellschaftsstruktur, die für den gesamten Mittleren Osten als Vorbild dienen könnte.
Wir fordern die Bundesregierung dringend auf, ihren ganzen Einfluss auf die türkische Regierung auszuüben, dass sie die Grenze zu Syrien für die IS schließt und die Unterstützung der Terrororganisation sofort beendet. Zudem muss das Embargo gegen die Selbstverwaltung und Menschen in Nordsyrien/Rojava sofort aufgehoben werden. Auch die Humanitäre Hilfe für die ezidischen Flüchtlinge muss auf Rojava ausgeweitet werden.
Nach den Ereignissen von Sengal erleben wir einmal mehr, dass es die Verteidigungseinheiten der Selbstverwaltung in Rojava (YPG) und der PKK sind, die die Bevölkerung vor Kriegsverbrechen, wie Mord, Vergewaltigung, Versklavung und Vertreibung zu schützen versuchen.
Redur Xelil |
Trotz der heftigsten Angriffe auf Rojava seit 2011 findet Redur Xelil Zeit unsere Fragen zu beantworten. Wir sitzen in seinem Büro im Souterrain eines Hauses mitten in Qamishlo, der Hauptstadt des östlichsten Kantons Cizire im Dreiländereck von Syrien, Türkei und Irak. Die YPG begreift sich als überethnische und überreligiöse Verteidigungseinheit zum Schutz der Bevölkerung vor den Angriffen islamistischer Gruppen und regionaler Mächte. Sie wurde aus der Notwendigkeit von Selbstverteidigung von derart umkämpften Regionen wie Kurdistan gegründet.
Redur Xelil schildert die politische und militärische Situation mit großer Offenheit und Klarheit. Er erklärt die extrem gute Ausrüstung der Terroristen des IS von amerikanischen Panzern über deutsche Milan-Raketen bis zu modernsten Wärmedetektoren. IS kontrolliert eine Region vom irakischen Mossul über Tikrit nach Syrien über Süd-Hassake nach Kobane und kann deshalb ohne größere Probleme Waffen verschieben. Kämpfer aus den Kriegen in Afghanistan, Irak und Somalia, ergänzt von Soldaten der Armee Saddam Husseins haben das nötige Wissen zur Bedienung der modernen Waffen und schulen IS Kämpfer im Umgang damit.
Plakate der YPG in Quamislo |
Die Luftangriffe der Amerikaner auf IS-Stellungen im Irak erklärt Redur Xelil für nicht aufrichtig, denn das Zentrum und die Hauptstellungen der Terrororganisation befinden sich in Syrien. Die Angriffe der USA würden den IS aus dem Irak nach Syrien treiben, wo er sich dann vornehmlich gegen die kurdischen Gebiete/Rojava richte. Die jetzt vom US-Kongress bestätigte Entscheidung, „gemäßigte Rebellen“ in Syrien auszurüsten, zu bewaffnen und in Saudi Arabien auszubilden, begegnet Redur Xelil mit einem Achselzucken: Ob Free Syrien Army (FSA), Al Nusra Front oder Islamische Front: sie seien ideologisch nicht weit weg vom IS und zu schwach, um einen derart aufgerüsteten, aggressiven Gegner zu bekämpfen.
Bleibt die Frage, warum die USA nicht die YPG in Rojava unterstützt. Die Erklärung des Sprechers der YPG aus diesem umkämpften Gebiet bestätigt nur das Naheliegende: Die Regierung der USA und ihre Verbündeten haben aufgrund ihrer ökonomischen und politischen Interessen seit Jahren die KDP im Norden des Irak unterstützt. Demgegenüber seien die Menschen in Rojava nicht von vergleichbarem strategischen Interesse, die Selbstverwaltung dort eher links positioniert. Sie hätten von Anfang an das US-amerikanische Projekt im Mittleren-Osten nicht unterstützt. Der tiefere Grund für die Nichtanerkennung und Nichtunterstützung der demokratischen Strukturen in Rojava liege allerdings darin, dass das Modell der Demokratischen Selbstorganisierung im Widerspruch zur kapitalistischen Moderne stehe. Deshalb unterstütze man sie nicht im Kampf gegen die Angriffe des IS. Das entbehrt nicht einer einsehbaren Logik, ist allerdings Zeugnis einer zynischen und menschenfeindlichen Logik.
Für Redur Xelil gibt es keine Zweifel, dass die USA mit ihrem militärischen Potential den IS in kürzester Zeit vernichten könnte. Mit modernen Waffen wie Drohnen und zielgenauen Lenkwaffen wäre das kein Problem. Die Terrororganisation werde allerdings als destabilisierende Kraft gebraucht und benutzt. Sie solle eine Atmosphäre von Angst und Schrecken im gesamten Mittleren Osten verbreiten. Nach Angriffen der IS sollten die Menschen in den Regionen dann die USA um Hilfe bitten. Auch in Europa werde diese Angst vor dem Näherrücken des Terrors geschürt. Wenn es die Regierung der USA mit ihrer Bekämpfung der IS ernst meine, müsste sie dagegen das Zentrum der IS in Syrien angreifen. Sämtliche regionalen und internationalen Akteure hätten das Entstehen und Wachstum von ISIS (Islamischer Staat im Irak und Syrien), wie sich IS zuvor nannte, beobachten können, man habe aber bewusst weggeschaut und die Terrororganisation gefördert, um sie zu benutzen.
Wir bekommen Dokumente gezeigt, die beweisen, dass der Terror aus und über die Türkei nach Syrien reist. Pässe, Ausweise, Militärmarken, Listen von Kämpfern und Waffen die Mitgliedern der IS und der Al Nusra Front aus Libyen, Tunesien, Bahrein und der Türkei abgenommen wurden. Redur Xelil ist ein politisch klarsichtiger Freiheitskämpfer, illusionslos und ohne ideologische Barrieren. Die YPG schützt offensichtlich die Menschen vor systematischen Angriffen auf eine funktionierende demokratische Gesellschaftsstruktur, die für den gesamten Mittleren Osten als Vorbild dienen könnte.
Wir fordern die Bundesregierung dringend auf, ihren ganzen Einfluss auf die türkische Regierung auszuüben, dass sie die Grenze zu Syrien für die IS schließt und die Unterstützung der Terrororganisation sofort beendet. Zudem muss das Embargo gegen die Selbstverwaltung und Menschen in Nordsyrien/Rojava sofort aufgehoben werden. Auch die Humanitäre Hilfe für die ezidischen Flüchtlinge muss auf Rojava ausgeweitet werden.
Nach den Ereignissen von Sengal erleben wir einmal mehr, dass es die Verteidigungseinheiten der Selbstverwaltung in Rojava (YPG) und der PKK sind, die die Bevölkerung vor Kriegsverbrechen, wie Mord, Vergewaltigung, Versklavung und Vertreibung zu schützen versuchen.
Gespräch im Ministerium zum Schutz der Frauen
In Cizire wurde, wie in jedem anderen
der drei Kantone von Rojava, ein Ministerium zum Schutz der Frauen
gegründet. In diesem Ministerium arbeiten fünf Kommissionen – Gesundheit, Kinder, Projekte, Recht und Öffentlichkeit. Insgesamt
gibt es die Unterteilung in langfristige und kurzfristige Projekte.
Geplant und zum Teil schon umgesetzt ist der Aufbau von Frauen- und Jugendzentren, in denen unter Anderem Traumaaufarbeitung und psychologische
Betreuung umgesetzt werden soll. Viele Frauen und Kinder sind vom
Krieg traumatisiert, andere durch feudale Strukturen oder das
Assadregime. Es gibt bereits ein Projekt zur Unterstützung von
Witwen von im Krieg Gefallenen.
Momentan erarbeitet das Ministerium
gemeinsam mit den Frauenkomitees in den Rätestrukturen der
Stadtteile und Dörfer Gesetzentwürfe zur Stärkung der Rechte der
Frauen. Polygamie bzw. Mehrfachheirat soll verboten, das Alter
der Heiratsfähigkeit auf 18 Jahre heraufgesetzt werden. Insgesamt
ist geplant die Frauenrechte auf allen gesetzlichen Ebenen soweit wie
möglich festzuschreiben und so Schrittweise auf der juristischen
Ebene, parallel zu gesellschaftlichen Prozessen, die
Gleichberechtigung durchzusetzen.
Das Ministerium führt zudem eine
soziologische Studie durch. Frauen werden systematisch u.a. über ihren
Bildungsstand, Gesundheitszustand und Probleme im Alltag befragt, um
eine Politik entwickeln zu können, die an den Bedürfnissen der
Gesellschaft orientiert ist.
Mit den ezidischen
Frauen im Newroz-Flüchtlingscamp setzt das Ministerium zum Schutz der Frauen ein Projekt um, in dessen
Rahmen eine Studie über die erfahrenen Kriegsverbrechen durch den IS
und die Erlebnisse auf der Flucht erstellt wird. Darüber hinaus soll
auch auf internationaler Ebene mit PsychologInnen und
MenschenrechtlerInnen zusammengearbeitet werden, um die Traumata
aufzuarbeiten und Techniken des Umgangs damit erlernen zu können. Erfahrene Fachkräfte, die Interesse haben sich
daran zu beteiligen, sind herzlich eingeladen.
Gespräch in der Frauenakademie
In jedem der drei
Kantone von Rojava gibt es eine Frauenakademie. Dort werden Frauen
gemäß der wissenschaftlichen Methode der
Jineologie/Frauenwissenschaft unterrichtet.
Unterricht in der Frauenakademie |
Jineologie/Frauenwissenschaft
ist eine moderne Wissenschaft, die auf der Analyse der bisherigen
Wissenschaftsmethoden und einer Synthese der Lehransätze der letzten
fünf Jahrtausende beruht. Die Frauen in der Akademie gehen davon
aus, dass die herkömmliche Geschichtsschreibung und Wissenschaft die
eigentlichen AkteurInnen der Geschichte – die Bevölkerung – und
noch weitergehend die Frauen, systematisch aus der
Geschichtsschreibung und oft auch aus der Wissenschaftsentwicklung
ausgeblendet hat. Die handelnden Menschen werden im Gegensatz zu den
Herrschenden kaum erwähnt. Diese eingeschränkte Sichtweise soll
überwunden werden. Es geht darum zentrale Fragen zu stellen: Warum
sind bestimmte Ereignisse geschehen? Wer hat wann, wie und warum
gehandelt? Wer hat welche Rolle in den Gesellschaften eingenommen
oder zugewiesen bekommen?
Insbesondere
beschäftigen sich die Frauen in den Akademien mit Kultur,
Wissenschaft, Sprache, Geschichte und Demokratietheorie. Ein
zentraler Diskussionsstrang ist, auf welche Weise die Demokratie in
den letzten Jahrhunderten auf negative Weise in die Gesellschaften
eingeführt wurde – und wie das in Zukunft verbessert werden kann.
Insgesamt gibt es
12 Fachbereiche, die in mehrwöchigen Kursen unterrichtet werden. In
dieser Zeit leben die Frauen gemeinsam in der Akademie und gestalten
das Leben kollektiv.
„Die
Frauenwissenschaft soll weiterentwickelt werden – es handelt sich
nicht um eine Ideologie – da das zu eingeschränkt wäre“,
erläutert unsere Gesprächspartnerin, Dolcin Akin. „Die
Wissenschaften in Europa haben es nicht geschafft angemessene
Lösungen für die gesellschaftlichen Probleme zu finden. Auch der
Feminismus blieb oft an einer Stelle stehen und reproduzierte
letztendlich patriarchale Strukturen. Wir setzen uns hier damit
auseinander, was zu gesellschaftlichen Spaltungsprozessen und
Hierarchien geführt hat und wie wir diese überwinden können. Vor
fünf bis sechstausend Jahren wurde die Frau als Gottheit verehrt und
dann bis Heute kontinuierlich schrittweise immer weiter von Achtung
sowie Teilhabe ausgegrenzt.
Wir sind jetzt an
einem Punkt angekommen, an dem wir als Frauen wieder anerkannt werden
wollen und Einfluss auf das Leben, auf die Kultur, die Wirtschaft und
Finanzen, die Geschichte und Politik nehmen.
Mit einer
humanistischen Ethik und den Erkenntnissen der Jineologie wollen wir
eine tiefgreifende Veränderung der Gesellschaft herbeiführen.
- In der Geschichtsschreibung wird die Frau nicht erwähnt – das muss sich ändern
- In der Politik ist die Frau nicht vorhanden – und wenn oft in patriarchalerer Form als Männer – das muss sich ändern
- Die Entscheidung über das Kinderkriegen muss der Frau überlassen werden – gerade in den Gesellschaften des Mittleren Ostens entscheidet das meist der Mann
- Beziehungen und Familie beruhen auf Besitzdenken – wir streben dagegen freie und demokratische Beziehungen und Partnerschaften an
- Die Versklavung der Frau muss überwunden werden – Die Frau muss als eigenständiges Wesen an der Gesellschaft teilnehmen können
Ethik und Ästhetik
bilden eine Einheit – in der jetzigen Gesellschaft wird das oft
voneinander getrennt. Wir trennen dagegen nicht unsere innere und
äußere Schönheit.
Die
kapitalistische Gesellschaft beruht auf Ausgrenzung. Das ist die
Grundlage für Krieg. Die in der kapitalistischen Ideologie
enthaltenen Prinzipien der Konkurrenz und des Profitdenkens sowie des
Konsums sind entscheidende Grundlagen der gesellschaftlichen
Spaltung.
Eine Wissenschaft
die nicht aus der Mitte der Bevölkerung entsteht, wird lediglich von
Eliten verwendet, um die Menschen zu unterdrücken. Wir wollen
dagegen gemeinsam mit allen Menschen eine Wissenschaft entwickeln,
die für alle gesellschaftlichen Bereiche und für jeden Menschen
anwendbar ist und den Menschen ermöglicht, sich schrittweise zu
befreien. Durch die Frauenwissenschaft wollen wir ein Teil der
Demokratie und des Demokratisierungsprozesses sein. In unserer
Wissenschaft steht die Persönlichkeitsentwicklung im Vordergrund.
Die Kommunen und Räte sind Teil dieses Entwicklungsprozesses.
Ein weiteres Ziel
der Frauenwissenschaft ist der Schutz und die Verteidigung der
demokratischen Gesellschaft. Darin spielen Respekt, Recht, Ökologie und Ökonomie
eine große Rolle. Wir bieten Unterrichtseinheiten meist ausschließlich für
Frauen an. Einige Kurse sind auch für Männer geöffnet.“